Eine Geschichte aus der Zukunft
Auf dem Weg zur Utopie liegt vielleicht einmal dieser Tag auf meinem Lebensweg. Vielleicht ist er so, vielleicht auch ganz anders, aber ganz sicher ist er ein anderer als heute.
Ich wache auf und es ist Frühling. Es ist überall Frühling: In mir, in den Bäumen, in unseren Häusern, auf dem Dorfplatz, wo Ursula nun an sonnigen Tagen wieder unter der Linde sitzt und jedem, der es hören will, Geschichten von alten Zeiten erzählt, als es noch Werbung gab und die Straßen noch voller Autos waren. Die verschlafenen Morgenstunden im Dorf sind mir die liebsten. Ein paar Kinder spielen auf den Straßen, vermutlich wurden sie von ihren schläfrigen Eltern rausgeschickt. Sie versuchen mich zu überreden, unseren Lernort für sie aufzuschließen, den ich in diesem Jahr mithüte, und ich muss über ihre geschickten Schmeicheleien lachen.
Tom, unser Bäcker, ist auch schon wach und singt beim Backen der Rosinenbrötchen französische Chansons. Letzte Woche gab es eine Bieter*innenrunde für unsere Bäckerei, die natürlich – wie alle anderen Betriebe in unserer Region auch – als Commons organisiert wird. Ich stecke meinen Kopf zur Tür hinein und stibitze uns ein paar noch warme Rosinenbrötchen. Hilde, die Tochter unserer Gärtnerinnen, ist ganz fasziniert von Toms Backkünsten. Je mehr sie staunend zum Fenster hineinblickt, desto schwungvoller und eleganter kneten seine Hände den weichen Teig und er fängt an ihr alles geduldig zu erklären. Sie verabreden sich für eine Mentorenschaft und Hilde rennt schnell nach Hause, um ihren verschlafenen Eltern davon zu erzählen. Langsam kommen immer mehr Menschen aus ihren Häusern. Manche treffen sich jetzt, um den Morgen zusammen in Stille oder in Bewegung zu beginnen. Mich zieht es raus in den Wald.
Ich spaziere an großen Gemüsegärten, in denen unser Essen freudig vor sich hin wächst, vorbei und an großen Streuobstwiesen, die wie ein Ring um unser Dorf liegen. Die Kirschen fangen schon zu blühen an und ich freue mich über die vielen Bienen und Hummeln, die für ein paar Schritte die Luft mit ihrem Summen erfüllen. Ich laufe an den Feldern und wilden Wiesen vorbei, während mich ein Rotmilan von oben neugierig beäugt und gehe hoch in den Wald, wo unser Dorf ein paar Hütten hat, die als Ort für Ruhesuchende dienen. Als ich oben auf dem Berg ankomme, kann ich unser freundliches Dorf von oben bestaunen, wie es ganz gemütlich dort im Tal liegt: Die Baumschule, unser Lernort, die Bibliothek, die Kirche, unser Gemeinschafthaus mit dem Theater und Konzertsaal, die Töpferei, unsere Mühle, unsere Dorflinde, die Mitfahrbänke am Rande des Dorfes und die Schreinerei. Wer hätte gedacht, dass sich ein Ort so schnell wandeln kann?
Langsam trete ich den Weg nach Hause an, denn mein Garten ruft mich und in meinen Fingern kribbelt ein Text – der über die ursprüngliche Akkumulation und ihre Auflösung. Am Nachmittag steht eine Videokonferenz mit dem Schreibkollektiv an und ich habe einen kleinen Impulsvortrag über Frau Holle versprochen. Doch das muss warten: Als ich Zuhause ankomme, finde ich eine kleine Gruppe Wandersleute vor. In unserer Gemeinschaft freuen wir uns immer über die Geschichten und neuen Ideen, die Reisende mitbringen. Besonders die Kinder löchern Gäste mit Fragen und versuchen sogar manchmal dafür ihre Sprachen zu lernen. Wir trinken Holundertee und die Menschen erzählen von ihrer Reise durch Rumänien, danach graben wir zusammen ein Stück Land um und ich verkrieche mich schließlich in unsere Schreiberei, wo Ursula schon den ganzen Morgen mit dampfenden Ohren an ihrem neuen Buch schreibt.
Wir schlürfen Tee und hacken in unsere Tasten, dann planen wir noch die neue Regionalvernetzungskonferenz, die diesen Monat in unserem Dorf stattfinden wird. Dort werden wir gemeinsame Themen der Dörfer wie Anbau von Getreide, Energieversorgung, Verteilung von Ressourcen und so weiter bewegen und gemeinsame Entscheidungen treffen.
Dieses Mal sind Gustav, Sarah und Emil per Los dazu bestimmt uns als Dorf zu vertreten, alle anderen dürfen natürlich aber auch mitreden, Wissen einbringen und kritische Fragen stellen. Es werden Geschichten erzählt, es wird sich gestritten und versöhnt, diskutiert und sich beraten. Das Beste an den Treffen sind aber die gemeinsamen Feste, an denen wir alle unglaublich viele Esskastanien und gesegelte Schokolade essen. Es läutet zum Mittagessen. Um die Dorfküche versammeln sich alle und singen noch ein Lied, bevor die Teller mit leckerem Essen beladen werden.
Ich spreche, während ich mir die dampfenden Kartoffeln in den Mund schiebe, mit Zora, unserer Hebamme, und lasse mir die Geschichte von der letzten Geburt erzählen. Nach einem kleinem Mittagsschläfchen geht es dann in die Videokonferenz, wo ich all meinen Hirnschmalz Transformationstheorien widme und voller Freude neue Gedankengänge erkunde. Kaum klappe ich den Laptop aber zu, torkele ich in unsere Keimzellenküche, wo ich mit Honigbroten gefüttert werde und meine Liebsten um mich herum wuseln, singen, streiten, sich versöhnen, Innerstes teilen und einander halten. Nach fünf Honigbroten lege ich mich in unseren Garten und schaue zu, wie eins unserer Kinder einem anderen Fahrradfahren beibringt. Ich schaue verträumt in die Wolken und genieße den Gesang einer Amselfrau, die in der Birke vorm Haus ihr Lied singt. Irgendwo singt jemand ein irisches Widerstandslied und ich erinnere mich an die vielen Jahre, die wir nun schon in der Transformation fragend und gemeinsam vorangeschritten sind. Ich denke an all die Seminare, Aktionen, Kampagnen, Performances und Rituale und muss bei dem wilden widersprüchlichem Wandel, der in unserem Dorf Zuhause ist, verschmitzt lächeln.